DER KOHLE ZUM WOHLE

2021 WETTBEWERB KUNST AM BAU | Schulstandort | Dresden Freiberger Staße
ANERKENNUNG

ANLASS UND ZIEL | Bei dem Bauvorhaben an der Freiberger Straße in Dresden wird bis 2025 ein neues Berufsschulzentrum für Wirtschaft mit gymnasialem Teil errichtet, der am ehemaligen Kohlebahnhof einen neuen städtebaulichen Schwerpunkt bildet und eng mit dem Stadtraum verbunden ist. Das Bauvorhaben soll in besonderer Weise um eine öffentlich wirksame künstlerische Intervention erweitert werden.

IDEE | Die vorliegende Arbeit schlägt für die Fassade des Berufsschulzentrums an der Freiberger Straße eine künstlerische Installation vor, die sich dezent in die klare Architektursprache einfügt und diese zugleich mit einem überraschenden, optischen Effekt in Bewegung setzt. Hinter der Lamellenfassade der Sporthalle ist im oberen Geschoss der prägnante Schriftzug Der Kohle zum Wohle montiert, der bei der Annäherung an das Gebäude oder beim Passieren unerwartet und flirrend hinter dieser hervorblitzt und aus Aluminiumprofilen besteht. Das zwischen den Fassadenlamellen überraschende Hervortreten des Schriftzugs wird durch die Überlagerung und leichte Verschiebung der zwei regelmäßigen Raster und die Bewegung des Betrachters bewirkt. Je nach Blickwinkel und den – abhängig davon – stärkeren oder schwächeren Über-lagerungen mit den Fassadenlamellen, ist der Schriftzug deutlich, schemenhaft oder gar nicht zu sehen.

Ansicht
Sichtbarkeit des Schriftzugs nach Betrachtungsposition

KÜNSTLERISCHES KONZEPT | Das künstlerische Anliegen der vorliegenden Arbeit besteht einerseits darin, möglichst wenig mit der prägnanten Gebäudearchitektur zu konkurrieren und zugleich im umgebenden Stadtraum einen deutlichen Akzent zu setzen. Dem Betrachter wird dabei die Erfahrung eines faszinierenden Effekts ermöglicht, der aus der simplen Anordnung von zwei versetzt hintereinander positionierten Rastern erwächst. Durch die abhängig vom Betrachtungswinkel entstehenden Überlagerungen ist dieser Effekt stärker, schwächer oder kaum wahrnehmbar.

Die Fassade scheint sich im betreffenden Bereich mit dem Betrachter zu bewegen. Je nach dessen Fortbewegungsart – Fuß, Rad, Straßenbahn etc. – resultiert eine unterschiedliche Wahrnehmungs-geschwindigkeit. Das flimmernde, flackernde, bewegliche Erscheinungsbild ist bewusst dezent und vermeidet den plakativen Auftritt.

Die vollständige Wahrnehmung und Erfassung des Kunstwerks ist nur durch Bewegung möglich. Der sich bewegende Betrachter erfährt, dass sich – abhängig vom eigenen Standpunkt – das Erscheinungsbild des Betrachteten ändert. Somit kann eine Änderung des eigenen Standpunktes, der eigenen Einstellung oder des Verhaltens eine Änderung des Blicks auf die Welt bedeuten. Einen statischen Standpunkt, wie in der Moderne, von dem aus sich die Dinge offenbar objektiv und teilnahmslos betrachten ließen, gibt es heute nicht mehr.

Die Welt ist in Bewegung und Veränderung. Zur umfassenden Erkenntnis braucht es viele Perspektiven. Wie wir als Menschen die Welt sehen, wie wir mit unserem Menschsein in der Welt stehen, liegt in unserer eigenen Verantwortung und ist stets auch änderbar. So versteht man, dass jedes Ding zwei Seiten hat, Kohle nicht ohne Asche verbrennt und Geld allein nicht glücklich macht.

technischer Aufbau

ORTSBEZUG | Das Anbringen eines Textes als Spruchinschrift an öffentlichen Gebäuden hat eine lange kulturgeschichtliche Tradition und spiegelte das Selbstverständnis und die Lebenseinstellung der Bauherren. Der hier vorgeschlagene Text, sein Hervorblitzen und wieder Verschwinden zielen auf die historische und heutige Nutzung des Ortes – ehemals als Kohlebahnhof und nun als Standort einer Wirtschaftsschule – und zugleich auf die Ambivalenz der Materie, wie auch des Begriffs „Kohle“.

„Kohle“ bezeichnet einen fossilen Energieträger, der lange Zeit die Essenz der Industrialisierung und damit Garant des technologischen Fortschritts war, dessen Verbrennung heute aber als eine der wesentlichen Ursachen für den Klimawandel erkannt wurde.

Gleichzeitig steht Kohle umgangssprachlich als Synonym für Geld. Die Ambivalenz des Geldes, als Garant für Wohlergehen einerseits und Anlass zur Ausbeutung und Unterdrückung auf dessen Kehrseite, ist allgemein bekannt.

Die frühere Nutzung des Ortes als Umschlag-bahnhof für Kohle und heute als geplanter Standort einer wirtschaftlichen Berufsschule gehen so einen, zwangsläufig Schmunzeln machenden Bedeutungs-zusammenhang ein. Denn der Bau eines Gebäudes mit goldfarbener Fassade, in der das Einmaleins kapitalistischer Austauschbeziehungen – vereinfacht das Kohle machen – gelehrt wird, am Standort eines ehemaligen Kohlebahnhofs, entbehrt nicht einer gewissen Ironie und zeugt von der Weisheit und vom Humor der Dresdner Stadtväter und -mütter.

Gesamtansicht Gebäudeteil

BEURTEILUNG DER JURY | „Der mutig bis provokative, sowie doppeldeutig inszenierte Schriftzug am Gebäude wurde sehr ausführlich und kontrovers diskutiert. Ein Bezug zu Ort und Nutzung ist in mehrfacher Weise herstellbar, regt zum Nachdenken an, könnte aber bezüglich aktueller politischer Diskussionen als wenig zukunftsweisend empfunden werden. Auch die künftigen Nutzer könnten diesen als abwertend bezüglich ihrer gewählten Ausbildungsrichtung auffassen. Die Arbeit ist ästhetisch gut gelungen und technisch realisierbar, bleibt teilweise subtil hinter der Fassade verborgen und erschließt sich erst beim genaueren Betrachten. Die Arbeit ist vieldeutig interpretierbar und könnte auch als Kritik am Bildungssystem gelesen werden.


KUNST | Paul Elsner | CHRISTIAN STILLER

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