MAGORA

2019 WETTBEWERB ARCHITEKTUR | FREIRAUMPLANUNG  | DEMOCRATIC UMBRELLA | MULTIHALLE MANNHEIM VON FREI OTTO

Das Konzept ‚mAgora‘ entwickelt die Multihalle in einem längerfristigen Prozess zu einem wichtigen Bestandteil der vernetzten Mannheimer Stadtlandschaft. Mittels der Akzentuierung und Transformation der Bausubstanz unter der Hülle entsteht eine neue Vielfalt an Raum- und Nutzungsangeboten. So erwacht die Wunder-Halle zu neuem Leben und wird zur Bühne einer offenen Stadtgesellschaft des 21. Jahrhunderts.

VERSTÄNDNIS Die international architektonische Strahlkraft der Holzgitterschalenkonstruktion in Mannheimer Herzogenried wird auch heute, 44 Jahre nach der Taufe als ‚Wunder-Halle‘, kaum jemand in Abrede stellen. Doch sowohl Bausubstanz als auch nutzungstechnische Bedeutung haben in den letzten Jahrzehnten stark gelitten und die Multihalle damit in den Zustand einer schlafenden Schönheit versetzt. Dabei bietet das außergewöhnliche Bauwerk mit seiner Erscheinung und Lage sowohl stadt- als auch sozialräumlich hohes Potential für die demokratische Stadtgesellschaft. Dabei gilt es Demokratie nicht nur im Sinne einer politischen Staatsform zu begreifen, für die es einer Räumlichkeit nach antikem Vorbild bedarf, sondern vielmehr um die Schaffung von zeitgemäßen offenen Räumen des städtischen Austauschs und Zusammenlebens aller Generationen und Gesellschaftsschichten. Da dies in einer Zeit rasanter Digitalisierungsprozesse nicht mehr nur im physischen Raum stattfindet bedarf es der Erweiterung des städtischen Demokratie- und Raumverständnisses um den virtuellen Raum. Nur so kann die Multihalle zum physischen, mentalen und digitalen Ort des öffentlichen Diskurses der heutigen und zukünftigen Stadtgesellschaft, als eine Agora des 21. Jahrhunderts, werden. In Gegenüberstellung zum Schloss, als dominante städtebauliche Figur, auf welche die ‚Quadratestadt‘ im absolutistischen Sinne morphologisch und politisch ausgerichtet war, erscheint die Multihalle mit ihrer leichten, überspannenden und in alle Richtungen geöffneten Bauweise als demokratisches Gegenstück. Gerade im äußerst vielfältigen und heterogenen Stadtgefüge nördlich des Neckars bietet die Aktivierung des Bauwerks mitsamt der Parklandschaft eine einzigartige Chance der räumlichen, ökologischen und sozialen, kurzum einer demokratischen Vernetzung.

KONZEPT Ausgehenden von diesem sozialräumlichen Stadtverständnis denkt das Konzept ‚mAgora‘ das Planungsgebiet als eine öffentliche Hügel-Dach-Landschaft, die zum bedeutenden Freiraumgelenk im Grünzug Nord zwischen Peripherie und Innenstadt wird. Aufbauend auf das organismische Architekturverständnis des Ideengebers wird der Raum durch drei Ebenen – entsprechend der natürlichen Stratifikation von Ökosystemen – charakterisiert und entwickelt. Durch die Öffnung und Erschließung des Parks in alle Himmelsrichtungen entsteht unter der filigranen Tragwerkskonstruktion ein überdachter Kumulationspunkt in dem sich die Wege aus dem urbanen Gefüge kreuzen und zusammenfließen. Die für eine demokratische Stadtgesellschaft notwendige Vielfalt an Nutzungs- und Raumangebote sind wie Lichtungen und ‚Follies‘ in den Park eingebettet. Elementare Freiräume und Gebäude im Zentrum der Anlage werden neben dem Steg vor allem durch das Dach überspannt und in Beziehung zueinander gesetzt. Zusätzlich zur freiraumplanerischen und architektonischen Transformation sieht das Konzept ein digitales Netzwerk vor.

PARK Die Multihalle und die Parklandschaft sind als untrennbare Einheit zu begreifen deren Grenzen fließend ineinander übergehen und in einer demokratischen Auffassung von öffentlichem Raum ihren Ausdruck finden. Hierzu ist ein barrierefreier, für jeden uneingeschränkt nutzbarer Zugang herzustellen der die notwendige Herauslösung aus dem zahlungspflichtigen Bereich des Herzogenriedparks voraussetzt. Hierdurch wird die Hügellandschaft um die Multihalle zum Scharnier in einem vielfältigen Freiraumverbundsystem. Das an die neue Offenheit angepasste Wegenetz verbindet die umliegenden Gebäude und Nutzungen  mit der Multihalle und greift die Formensprache der Holzgitterschale auf, fließt wie selbstverständlich unter dem Dach hindurch und wird so zu einer Verbindungsachse zwischen der Neckarstadt Ost und West sowie dem Herzogenried und der Innenstadt. Die großzügigen Promenaden werden durch geschwungene Wandelwege ergänzt welche die verschiedenen Platzsituationen, Lichtungen und Gärten der Hügellandschaft verknüpfen und gleichzeitig immer wieder neue Blicke durch den angepassten Baumbestand auf die einzigartige Dachkonstruktion ermöglichen. Um die Vielfalt der Stadtnatur erlebbar zu machen werden sowohl bestehende Elemente, wie der Bauerngarten, das Wasserspiel oder die verschiedenen Brunnen in das Parkkonzept integriert, als auch neue Freiräume wie die Weiherbühne, der Hügelblick oder die Pergolengärten geschaffen.

STEG Die Wandelwege der Parklandschaft knüpfen an die Stegebene der Multihalle an und bindet diese selbstverständlich in das Gesamtkonzept ein. An den Zugängen zum Steg wird die Vegetation bewusst verdichtet. Das Betreten des überdachten Bereichs wird so durch die entstehenden Torsituationen betont und dem beeindruckenden Raumerlebnis des Holzgitterschalendachs geschmeichelt. Der Steg dient als informelle Verbindung zwischen den verschiedenen Gebäuden und Nutzungsbereichen. Neben dieser infrastrukturellen Funktion entstehen vor Stadtlabor und Orangerie einladende Foyersituationen die entsprechend der Jahreszeiten als temporäre Begegnungs- und Ausstellungsflächen genutzt werden können. Die Flächen im Bereich der Rampen werden, mit Ausnahme des bestehenden Toilettenhäuschens, entsprechend einer Krautschicht im lichten Wald mit Schattenstauden, Farnen und Waldgräsern bis an die hindurchfließenden Promenaden bepflanzt. So wird die von den Erbauern angestrebte Durchdringung von Innen und Außen zusätzlich gestärkt. Der charakteristische ‚Säulenwald‘ unter dem Steg wird ausgehend von den Promenaden als weitläufige Platzfläche gestaltet. So werden Blickbezüge und Wegebeziehungen in die umgebende Parklandschaft hergestellt.

AGORA die große Halle als Herzstück liegt an der Schnittstelle der Promenaden. Mit der Öffnung der Zugänge und der Einbindung in das fließende Wegenetz einerseits sowie dem Rückbau der unflexiblen vorderen Tribünen-Einbauten andererseits entsteht ein überdachter Freiraum, der sich als ein wandlungsfähiges Volumen in einer heterogenen Stadtlandschaft präsentiert. Die Agora ist ein einmaliger Ort für alle, der je nach Bedarf als multifunktionaler Ort für verschiedenste Aktivitäten und Interessen genutzt werden kann. Sei es als nachbarschaftlicher Aktionsraum, als kulturelle Großveranstaltung, als kreativer Ausstellungsraum, als jugendliche Bewegungsfläche, als freies Experimentierfeld, als sportliche Arena, als städtische Identität, als gesellschaftlicher Demonstrations- und Verhandlungsraum, als lokaler Marktplatz oder einfach als inspirierender, beeindruckend offener, scheinbar grenzenloser Raum. Die optional abtrennbaren Zugänge im Süden und Norden ermöglichen bei Bedarf auch eine Nutzung als ‚Freiluft-Halle‘ für geschlossene Veranstaltungen in dem grundsätzlich als öffentlicher Raum fungierenden Bauwerk. Durch das Freiräumen der Grundfläche entsteht eine geschwungene Raumkante, die in der vertikalen Verlängerung über die tragenden Stützen die imposante Holzgitterschalen-Kuppel vervollständigt und das einzigartige Raumvolumen zur Geltung bringt.

MULTIBUDEN Die im Rahmen der architektonischen Ausformulierung der Agora entstehende Raumkante folgt überwiegend dem Verlauf der die Kuppel stützenden Säulen. Diese mietbaren Multibuden bieten Raum für unterschiedliche Nutzungen: ob als temporäre Musik-Bar, kleine Werkstatt, wechselnder Galerieraum, Pop-Up Store, privater Proberaum, Quartierskiosk oder zeitweise auch einfach als Lagerraum ist alles möglich. Je nach Situation und Bedarf können sie als geschlossene Räume oder als Teil der Agora, z.B. als Verpflegungsstände bei Konzerten oder als Buden beim (Weihnachts-)Markt, genutzt werden. Im südlichen Bereich der großen Halle werden die vorhandenen Toiletten- und Garderoben-Einheiten modernisiert um für jede Art und Größe der Nutzung bereitzustehen. Davor entsteht ein verglaster Gastronomiebereich dessen Ecke der amorphen Struktur des Daches folgt und das südliche Entrée zur Agora fasst. Gleichzeitig bildet diese Einrichtung das lockere Pendant zum Restaurant im Stadtlabor und ermöglicht eine Bewirtung des neu gestalteten Biergartens. Das gesamte Bauwerk wird bis unter den Steg nach Süden verlängert. Die dort entstehenden flexibelen Raumeinheiten im 5×5 Meter Raster der Steglandschaft bieten Atelier- und Workshopräume, vor allem für ortsansässige Vereine und Initativen. Im Übergang zum sanierten, öffentlichen Toilettenhäuschen unter der westlichen Rampe liegt eine rückwärtige Lieferzone sowie ein Erschließungskern, u.a. für den barrierefreien Zugang zur oberen Ebene.

ORANGERIE Oberhalb der Multibuden entsteht ein großer geschwungener Saal, der schon auf Grund der Dachwölbung als eigenständiger Raum und gleichzeitig als überdachte Erweiterung des landschaftlich gestalteten angrenzenden Hügels wirkt. Die verbliebene Tribünen-Stufe wird mit einer Leichtbauweise ausgeglichen wodurch ein als Leitungskanal und Lüftung nutzbarer Schacht entsteht. Mit dieser Maßnahme werden die monumentalen Fundamente der Säulen verblendet und selbige passend zur filigranen Dachkonstruktion verschlankt. Durch das Einziehen von an Metallprofilen befestigten großen Glasscheiben zwischen den Säulen wird die Holzgitterschalenkonstruktion nicht tangiert und dennoch ein transparentes Volumen geschaffen. Der Charakter einer offenen Orangerie wird durch amorph geschwungene Pflanztöpfe mit verschiedenen Gehölzen und Stauden zwischen denen eine freie Bestuhlung überdachte Rückzugsorte in Mitten der Hügellandschaft schafft verstärkt. Durch den integrierten Lastenaufzug können die mobilen Pflanztöpfe nach belieben verteilt und bei Bedarf ein abtrennbarer Saal, z.B. für Theateraufführungen, Vereinssitzungen oder Firmenfeiern, geschaffen werden. Gleichzeitig kann die Orangerie situationsabhängig, z.B. bei Konzerten oder Kinoaufführungen, als logenähnliche Empore umfunktioniert werden wodurch sie als räumliche und nutzungstechnische Erweiterung der großen Halle fungiert.

STADTLABOR Die kleinere Kuppel der Dachlandschaft ist mit Ausnahme des Restaurants heute kaum nutzbar. Auf Grundlage der markanten Grundstruktur der Steglandschaft die die kleinere Kuppel prägt wird das 5×5 Meter Raster aufgegriffen und extrudiert. So entsteht aus einem eingeschossigen Pavillon das mehrgeschossige Stadtlabor. Damit bildet es das bauliche Gegenstück zum offenen Freiraumcharakter der großen Halle und ergänzt deren großzügigen Nutzungseinheiten durch kleinere und flexiblere Raumangebote. Das viergeschossige, modulare Bauwerk dient als Begegnungs-, Arbeits- und Forschungsgebäude. Die vorhandene gastronomische Nutzung wird im sanierten Erdgeschoss beibehalten und durch ein auf die NutzerInnen des Stadtlabors abgestimmtes Versorgungsangebot erweitert. Im ersten Obergeschoss entsteht, als direkte Erweiterung der Steglandschaft, ein öffentlicher Bürgersaal. Dieser wird durch eine Nachbarschaftsküche sowie flexibel zuschaltbare Workshopräume und Terrassen ergänzt. Das zweite und dritte Obergeschoss dienen als Büroebenen mit mehreren Einzel- und Gruppenarbeitsplätzen, verschiedenen Besprechungsräumen sowie Arbeits- und Entspannungsdecks. Da das Stadtlabor konzeptionell als Bestandteil der Hügellandschaft verstanden wird werden die Dächer und Fassaden mit intensiver Begrünung und Pflanztöpfen begrünt. Die zahlreichen Terrassen ermöglichen den NutzerInnen sowohl die Begehbarkeit des ‚Hügels‘ als auch neue und detaillierte Blicke auf die einzigartige Dachkonstruktion.

NETZWERK Durch ein im Park für alle nutzbares WLAN, die Entwicklung einer online Kommunikationsplattform sowie die Einrichtung einer digitalen Stadtmediathek wird der demokratische Raum in und um die Multihalle durch die virtuelle Komponente erweitert. Das Netzwerk dient der Vernetzung der arbeitenden, experimentierenden und besuchenden Aktiven vor Ort genauso wie als Partizipationsmöglichkeit für Menschen andernorts. Ziel ist es eine vielschichtige Teilhabe zu ermöglichen, Wissen zu teilen und Synergien zwischen verschiedensten AkteurInnen und Institutionen – von QuartiersbewohnerInnen und Stadtverwaltung über Bildungs- und Forschungseinrichtungen bis hin zu Sport-, Kleingarten- und Kulturvereinen – zu ermöglichen um so den öffentlichen Stadtdiskurs im Herzogenried, in Mannheim und darüber hinaus zu fördern.


FREIRAUMPLANUNG | JONATHAN STIMPLE
ARCHITEKTUR | CHRISTIAN STILLER

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